Jom Kippur und die Zeit

Jom Kippur und die Zeit

Jom Kippur und die Bedeutung von Zeit

Jedes Jahr vor Jom Kippur blicke ich auf mein vergangenes Lebensjahr zurück – auf das, was seit dem letzten Jom Kippur geschehen ist. Ich versuche, mich zu erinnern und meine „geistlichen Baustellen“ zu überprüfen: Wo stehe ich? Wo habe ich Fortschritte gemacht? Wo vielleicht Rückschritte? Wie soll es weitergehen? Habe ich irgendwo „offene Rechnungen“? Muss ich jemanden um Vergebung bitten, jemandem vergeben? Gibt es aktive Konflikte?

Eigentlich haben wir zehn Tage, um uns diese Fragen zu stellen, aber dieses Jahr war besonders stressig. Ich bin erst am Ende dieser Zeit dazugekommen, und es fühlte sich an wie in der Schulzeit, kurz vor einer Prüfung: Man schaut auf die Uhr und merkt, dass nur noch fünf Minuten übrig sind – reicht das noch? Es ist ein unbequemes Gefühl. Doch auch wenn es unangenehm ist, ist es gut, dass Gott uns solche Termine und Fristen gibt. Denn, seien wir ehrlich: Wenn es keine Frist gibt, machen wir es einfach nicht. Wir schieben Dinge immer auf – wie in dem Theaterstück, das wir gesehen haben. Es ist, als würden wir ewig leben, aber irgendwann hört die Uhr auf zu ticken. Darum beschäftigen wir uns heute mit dem Thema Zeit.

Zeitmanagement ist ein riesiges Geschäft: Bücher, Trainings, Coachings, Methoden, Kalender – all das gibt uns das Gefühl, die Zeit verwalten oder beherrschen zu können. Doch wir kennen die oft gesagten Worte: „Ich habe keine Zeit! Ich muss mich beeilen! Ich bin zu spät.“ Aber wer beherrscht hier wen? Tatsächlich werden wir von der Zeit beherrscht.

Aber was ist Zeit? Ist sie real oder existiert sie nur in unserer Vorstellung? Bevor es Uhren gab, konnte man da zu spät kommen oder verschlafen? Gab es Zeit schon immer, oder haben wir sie erfunden? Dass unsere Uhrzeit eigentlich eine Illusion ist, merken wir beim Reisen: Manchmal „fliegen“ wir sechs Stunden in die Zukunft oder Vergangenheit. Oder wenn ich morgens zur Arbeit komme und meine indischen Kollegen bereits Nachmittag haben. Wenn ich Feierabend mache, betreten die amerikanischen Kollegen gerade ihr Büro, und doch sprechen wir alle im „Jetzt.“

Wann begann die Zeit?
Die Bibel zeigt uns den Anfang der Zeit in 1. Mose 1:5:

„Und Gott nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Und es wurde Abend, und es wurde Morgen: der erste Tag.“

Die Zeit begann also erst mit der Schöpfung. Darum wissen wir, dass Gott außerhalb der Zeit existiert. Er ist ein ewiges Wesen, das der Zeit nicht unterworfen ist.

Keine andere Glaubensrichtung nimmt die Zeit so ernst wie das Judentum. Feiertage beginnen nicht nur an einem bestimmten Tag, sondern oft zu einer ganz bestimmten Uhrzeit. Oder habt ihr schon mal gehört, dass Weihnachten um 22:23 Uhr beginnt? Aber das war nicht immer so. Wie oft lesen wir in der Bibel, dass sich jemand beeilen musste oder im Stress war? Praktisch nie. Nur selten, wie:

  • Lot und seine Familie, als sie Sodom verließen, bevor es zerstört wurde.
  • Das hastige Essen beim Auszug aus Ägypten.

Ansonsten gibt es kaum Eile in den Erzählungen.
Früher folgte man dem Rhythmus der Natur: Man stand mit dem Sonnenaufgang auf und legte sich mit dem Sonnenuntergang schlafen. Im Winter waren die Tage kürzer, im Sommer länger. Die Zeit war nichts Abstraktes. Kühe wurden gemolken, wenn sie gemolken werden mussten, und die Ernte eingefahren, wenn das Getreide reif war. Niemand hätte daran gedacht, die Arbeit eines Monats an einem Tag zu erledigen oder die Ernte vorzuziehen – die Arbeit eines Bauern endete nie. Das Leben orientierte sich an Aufgaben und nicht an einer Uhr am Handgelenk.

Doch mit der Industrialisierung wurde die Zeit messbar und käuflich. Die Bauern zogen in die Städte und verkauften ihre Zeit. Zeit wurde zu einer Ressource, die produktiv genutzt oder verschwendet werden konnte, denn sie wurde plötzlich zu „Geld.“ Die Frage lautete: Wie viel Arbeit kann man in einer bestimmten Zeitspanne leisten? Effizienz wurde zum Maßstab.

Unser heutiger Umgang mit Zeit

  • Wir sehen Zeit als Ding, das man messen, nutzen und besitzen kann.
  • In unserer Vorstellung ist Zeit ein Kalenderblatt, ein Ziffernblatt, eine Zeitleiste oder ein Fließband, das an uns vorbeizieht.
  • Wie Oliver Burkeman in 4000 Wochen schreibt: Jede Stunde ist wie ein Container, den wir mit wichtigen Dingen füllen müssen. Bleibt etwas ungefüllt, empfinden wir Stress, und wenn wir „Arbeitszeit-Container“ schlecht füllen, kann der Arbeitgeber verärgert werden – schließlich bezahlt er für diese Container.

Produktivität als Religion
Produktivität ist zu einer Art Religion geworden, die dem Leben einen Sinn verleiht. Viele Menschen beschäftigen sich daher mit Selbstoptimierung, was ihnen ein Gefühl von Existenzrecht gibt und schwierige Gedanken oder Gefühle verdrängt. Man muss sich der Vergänglichkeit nicht stellen, solange man jede Minute ausfüllt. Aber wie würden biblische Menschen über „Zeitverschwendung“ denken? Vermutlich wüssten sie gar nicht, was das ist.

Shabbat ist heute wichtiger denn je. Er zwingt uns zur Ruhe und hält uns davon ab, produktiv zu sein. Noch strenger ist dies im Gebot für Jom Kippur:

Am zehnten Tag des siebten Monats sollt ihr eure Seelen demütigen und keinerlei Arbeit verrichten, weder Einheimische noch Fremde in eurer Mitte. Denn an diesem Tag wird für euch Sühne erwirkt, um euch zu reinigen. Darum soll es ein ewiger Ruhetag sein.“ (3. Mose 16:29-31)

Ich habe großen Respekt vor Menschen, die regelmäßig fasten. Ich empfinde das als große Leistung, weil es mir selbst so schwerfällt. Aber hier geht es um das Gegenteil von Leistung. Das Volk stand vor dem Eingang der Stiftshütte, sogar alle anderen Priester konnten nichts machen. Nur der Hohepriester allein ging ins Allerheiligste und versöhnte das Volk mit Gott. Alle haben gebangt ob Gott das Opfer annehmen würde und waren dann ganz erleichtert, wenn der Priester heil und lebendig rauskam.

Genauso ohnmächtig wie unser Volk vor der Stiftshütte stand und unfähig war mit eigener Leistung Sühne zu erwirken, geht es auch uns. Gott hat uns mit sich versöhnt durch das Opfer Jeschuas, das wir nur annehmen müssen. Es ist alles schon vollbracht. Darum müssen wir heute nicht mehr bangen – wir wissen, dass Jeschua unser Hohepriester im himmlischen Allerheiligsten für uns eintritt.

Und dennoch fasten wir heute und demütigen unsere Seelen weil das ein ewiges Gebot ist. Wir beschädigen immer wieder unsere Gottesbeziehung durch Sünde und bitten um Vergebung: Gott und Menschen. Beim Fasten hat Leistungsdenken nichts zu suchen, sondern verfehlt das Ziel von Demut.

Wie fragt man auf Hebräisch nach der Uhrzeit? „Ma hashaah!“ – „Welche Stunde?“ Doch das Wort für „Zeit“ ist „Zman.“ Eine Uhr misst Minuten und Stunden, aber „Zman“ steht für Epochen, Zeitalter und Jahreszeiten. Prophezeiungen sprechen von „Zman“ und dies weniger als linearer Zahlenstrahl sondern eher zyklisch: Der Wochenzyklus und der Shabbat, der Jahreszyklus mit Festtagen, das Sabbatjahr nach sechs Jahren und das Jubeljahr nach 50 Jahren. Diese Zyklen geben unserem Leben einen Rhythmus, sie entsprechen Gottes Ordnung und bieten immer wieder die Chance, uns neu auszurichten.

Wenn wir die Zyklen nicht von oben, sondern von der Seite betrachten, erkennen wir eine Spirale. Am selben Tag ein Jahr später stehen wir nicht an der gleichen Stelle, wir sind gealtert, gereift, verändert. Wir haben heute wieder Jom Kippur wie letztes Jahr, aber wir sind nicht mehr dieselben. Im letzten Jahr ist viel passiert, dass unser Leben für immer verändert hat. Heute bekommen wir eine Chance mit Gott neu anzufangen.

Wozu Fristen und Zeiten?
Wozu überhaupt Zeit, Fristen, Countdown vor Jim Kippur? Das schärft unsere Aufmerksamkeit, wie vor einem Raketenstart, Neujahr, beim Sport, bei einer Prüfung. Wir sind vollkommen fokussiert, jetzt kommt’s drauf an!

Psalm 90,12
Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden. 

Das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit führt zu klugen Entscheidungen. Das Gegenteil erleben Menschen, die plötzlich die Hälfte ihres Lebens hinter sich haben und in eine Krise schlittern, in der sie sich des herannahenden Todes bewusst werden. Man stellt sich dann die Frage: „Wann will ich anfangen in der Zukunft zu leben für die ich gelernt, geschuftet und gespart habe?“

  1. Nicht für später leben: „ich kümmere mich um den Sinn des Lebens, wenn ich endlich fertig bin mit Schule, Studium, meinen Partner habe, wenn ich Kinder habe, wenn die Kinder aus dem Haus sind“. Die richtige Zeit um Gott kennenzulernen oder mit ihm Frieden zu schließen ist immer JETZT.
  2. Akzeptieren, dass es immer zu viel zu tun gibt. Statt Zeitmanagement, lieber begrenzte Zeit verbringen indem man sich auf die wenigen Dinge konzentriert, die wirklich wichtig sind. Man ist nur unzufrieden und leidet an Zeitmangel solange man die Illusion hat alles kontrollieren zu können und alles in die begrenzte Zeit reinpressen zu müssen.
  3. Endlichkeit als Segen verstehen lernen. Wenn wir ewig leben würden, hätte nichts Bedeutung, weil wir uns nie entscheiden müssten, weil wir alles machen könnten. Entscheidung für etwas ist immer auch gegen etwas anderes > verleiht Wert und Bedeutung. Unser Leben bekommt Bedeutung durch die Endlichkeit. Du kannst nicht alles machen, du musst Verantwortung für deine Zeit übernehmen und entscheiden wofür du die Zeit nutzt und damit auch was wirklich wichtig ist und Bedeutung hat.
  4. Zeit ist ein Geschenk. Ich darf über Zeit entscheiden, auf die ich nie Anspruch hatte. Zu sagen „Ich habe am Dienstag Zeit“ trifft es nicht. Wir haben die Zeit nicht, wir besitzen sie nicht. Sie wird uns jeden Tag aufs Neue geschenkt und kann morgen enden, obwohl doch die Statistik mir 78 Jahre gibt.

Manchmal besucht mich die Angst davor jung zu sterben. Aber wie viel Leben ist genug?

Prediger 1,8 […] das Auge sieht sich nicht satt, und das Ohr hört nie genug.

Es ist nie genug. Aber mich tröstet, dass nicht irgendwelche Zufälle darüber entscheiden, sondern, dass der Herr meinem Leben die Länge gibt:

Psalm 31,15-16 Aber ich vertraue auf dich, o HERR; ich sage: Du bist mein Gott! In deiner Hand steht meine Zeit; rette mich aus der Hand meiner Feinde und von meinen Verfolgern!

  1. Alles hat seine Zeit:

Prediger 3:1
Alles hat seine bestimmte Stunde, und jedes Vorhaben unter dem Himmel hat seine Zeit (Zman)

König Shlomo hat sich intensiv mit der Zeit und Vergänglichkeit beschäftigt und im Buch Kohelet teilt er Erkenntnisse: alles sinnlos und haschen nach Wind. Er hat sich voll dem Business gewidmet und hat viel Reichtum erlangt > sinnlos. Hat Sinn gesucht in Fokus auf Spaß, Wein, Frauen – Sinnlos. Fokus auf Weisheit –  Sinnlos. Kommt zur Erkenntnis: es geht um die Akzeptanz dessen, dass alle Dinge im Leben ihren Sinn haben zu ihrer Zeit: Leben und Tod, Krankheit und Gesundheit, Säen und Ernten, Freude und Trauer.

Prediger 3:10-11
Ich habe das mühselige Geschäft gesehen, das Gott den Menschenkindern gegeben hat, damit sie sich damit abplagen. Er hat alles vortrefflich gemacht zu seiner Zeit, auch die Ewigkeit hat er ihnen ins Herz gelegt — nur dass der Mensch das Werk, das Gott getan hat, nicht von Anfang bis zu Ende ergründen kann.

  • Leid, Probleme, Last ist Leben. Solange wir leben, ist es das, was uns antreibt zu lernen und zu wachsen und uns lehrt das Gute zu schätzen und daran zu erfreuen
  • Gleichzeitig hat uns das Gefühl und vielleicht sogar die Sehnsucht nach der Ewigkeit ins Herz gelegt. Diese Welt kann nicht alle sein! Aber wir können sie nicht ganz verstehen, weil wir immer im Jetzt stecken und nie das ganze Bild sehen (alles davor und danach).

Was passiert nach dem Ende der Zeit?
Was passiert, wenn der Countdown auf null geht? Die Zeit ist zu Ende.

Jesaja 65:17 Denn siehe, ich schaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde, sodass man an die früheren nicht mehr gedenkt und sie nicht mehr in den Sinn kommen werden;

Wir sind endliche Wesen, die in einer endlichen Welt leben. Diese Feiertage zwingen uns wenigstens einmal im Jahr uns daran zu erinnern und umzukehren, unseren Kurs zu ändern, uns neu an Gott auszurichten. Warte nicht! Die richtige Zeit um Gott das Vertrauen zu schenken ist JETZT!